Diesen Artikel wollte ich schon länger schreiben.
Nicht, weil die Welt noch einen weiteren Text über ADHS braucht – sondern, weil ich das Gefühl habe, dass wir über eine bestimmte Gruppe viel zu wenig sprechen: die leisen Mädchen, die still funktionieren, während innerlich alles viel zu viel ist.
Früher unterschied man zwischen ADS (ohne Hyperaktivität) und ADHS.
Heute wird beides unter ADHS zusammengefasst – mit unterschiedlichen Ausprägungen.
Viele Menschen benutzen den Begriff ADS dennoch weiterhin, besonders wenn es um stille, verträumte Kinder geht.
Ich schreibe diesen Artikel nicht als Fachperson, sondern als Mutter und Beobachterin. Er ersetzt keine Diagnostik, sondern möchte einfach dabei helfen, diese feinen Signale besser wahrzunehmen.
Wenn Überforderung keinen Lärm macht
Es gibt Kinder, die sieht man sofort.
Nicht, weil sie sich in den Mittelpunkt stellen, sondern weil ihr Lachen, ihr Rennen, ihre ganze Lebendigkeit den Raum füllt, ohne dass man hinschauen muss. Wenn sie überfordert sind, spürt man es sofort – in der Unruhe, im Tonfall, in den schnellen Bewegungen.
Und dann gibt es die anderen.
Die leisen Kinder.
Die stillen.
Die Kinder, die sich zurücknehmen, obwohl sie innen so viel fühlen.
Mädchen, die träumen, lächeln, funktionieren – und dabei fast unsichtbar werden, weil ihre Überforderung keinen Lärm macht.
Mit der Zeit habe ich einen Blick für diese Kinder entwickelt.
Vielleicht, weil ich viele von ihnen im Alltag begegnet bin — in der Familie, im Freundeskreis, in Momenten, in denen andere nur das „brave“ Kind sahen.
Oder vielleicht, weil ich selber so ein Kind war.
Mit der Zeit lernt man, auf die kleinen Signale zu achten, die so leicht übersehen werden.
Und genau diese feinen Signale sehe ich heute auch bei meiner Tochter:
diese besondere Zartheit, dieses stille Aushalten, das man nur erkennt, wenn man wirklich hinsieht.
Vielleicht kennst du auch so ein Kind.
Vielleicht hast du eine Tochter, die „brav“ wirkt, „zart“, „angepasst“, „unkompliziert“.
Vielleicht wurde dir schon gesagt:
„Du hast es gut – sie macht doch keine Probleme.“
Und vielleicht ahnst du längst, dass genau das der Grund sein könnte, warum so vieles davon unsichtbar bleibt.
Denn Überforderung ist nicht immer laut.
Sie kündigt sich nicht mit Getöse an.
Sie versteckt sich manchmal in einem stillen Nicken, in einem müden Blick, in einem „ist schon okay“, das gar nicht okay ist.
Das Missverständnis der stillen Überforderung
Wenn über ADHS oder ADS gesprochen wird, denken viele Menschen zuerst an Bewegung, Lautstärke, Impulsivität.
An Unruhe, Trotzen, Explosionen.
An Kinder, die auffallen, weil sie „zu viel“ sind – zu laut, zu wild, zu ungebremst.
Dieses Bild ist so präsent, dass wir manchmal vergessen, wie unterschiedlich Überforderung aussehen kann.
Denn nicht jedes Kind kämpft außen.
Manche kämpfen innen – lese, höflich, unbemerkt.
Gerade Mädchen werden in dieser stillen Form der Überforderung häufig übersehen.
Nicht, weil niemand sie liebt oder sieht, sondern weil ihre Art des Kämpfens so anders ist als das Bild, das wir von ADHS/ADS im Kopf haben.
Ihre Überforderung macht keinen Radau.
Sie sitzen still, nicken, lächeln — während innen ein Sturm tobt, der nirgendwo hin kann.
Sie wirken verträumt, obwohl der Kopf übervoll ist.
Sie sind erschöpft, obwohl sie kaum ein Geräusch verursachen.
Sie sagen „ja“, obwohl ihr ganzer Körper „nein“ meint.
Und wenn wir ehrlich sind:
Leise Überforderung ist oft schwerer zu bemerken, gerade weil sie so höflich daherkommt.
Sie kann aussehen wie gutes Benehmen — und genau das macht sie unsichtbar.
Nicht jedes stille Mädchen hat ADHS – und nicht jede Überforderung ist eine Diagnose. Aber viele Mädchen überschreiten täglich eigene Grenzen, ohne dass jemand es merkt
Warum gerade Mädchen so oft durchs Raster fallen
Viele Mädchen mit ADS/ADHS – oder einfach einem sehr empfindlichen Nervensystem und hohem Reizaufkommen – lernen sehr früh, wofür sie gelobt werden:
- fürs Mitmachen
- fürs Stillsein
- für Rücksicht
- für brave Anpassung.
Sie entwickeln etwas, das in der Fachwelt „Masking“ oder „Camouflaging“ genannt wird .
Das sieht im Alltag oft so aus:
- Sie beobachten andere und passen sich an.
- Sie lächeln, obwohl ihnen der Kopf brummt.
- Sie sitzen still, obwohl ihr Körper eigentlich rennen möchte.
- Sie nicken, obwohl sie nicht verstanden haben, was verlangt wurde.
Von außen wirkt das vernünfitg.
Von innen kostet es Kraft.

Diese Mädchen tragen eine Last, die niemand sieht:
den Druck, nicht aufzufallen, nicht zu stören, nicht „falsch“ zu sein.
Ausgerechnet diese Kinder hören am häufigsten Sätze wie:
„Sie ist so vernünftig.“
„Mit ihr hat man keine Arbeit.“
„So ein pflegeleichtes Kind.“
Und ja, das kann sich für Erwachsene praktisch anfühlen.
Für das Kind selbst ist es oft etwas anderes: eine stille Dauerspannung.
Die Forschung zeigt inzwischen ziemlich deutlich, dass Mädchen mit ADS/ADHS häufiger übersehen werden als Jungen.
Die Symptome wirken „leiser“, weniger impulsiv, eher verträumt als „aufgedreht“.
Viele strengen sich extrem an, möglichst unauffällig zu sein. Dieses Maskieren kostet Energie – und genau deshalb sind so viele von ihnen innerlich erschöpft, obwohl man es ihnen von außen kaum ansieht.
Wie sich stille Überforderung zeigt – und warum sie so leicht übersehen wird
Es gibt eine Art von Überforderung, die kein Geräusch macht.
Sie sagt nicht Bescheid.
Sie macht keinen Radau, keinen Ärger, keinen Lärm.
Sie sieht manchmal sogar so sanft aus, dass man meinen könnte, alles sei in Ordnung –
während innen drin ein Sturm tobt, der nirgends hin kann.
Typische Anzeichen:
- Ein Kind wirkt verträumt, obwohl es eigentlich völlig überreizt ist.
- Es schaut durch dich hindurch, weil im Kopf kein Platz mehr ist für noch einen Reiz, noch eine Ansprache, noch ein Muss.
- Fehler treffen es härter, als andere – nicht aus Trotz, sondern aus Angst, „schon wieder nicht gut genug“ gewesen zu sein.
- Es übernimmt Verantwortung, die es nicht tragen kann, nur um niemanden zu belasten.
- In der Schule hält es durch — aus Pflicht, aus Anpassung, aus einem tiefen Wunsch, nicht aufzufallen.
- Und zuhause kommen die Tränen scheinbar ohne Grund.
- Oder es wird noch stiller.
- Bauchweh, Kopfweh, innere Spannung: Das Nervensystem versucht mitzuhalten.
- Grübeln:
„Habe ich alles richtig gemacht?“
„War jemand enttäuscht?“
„Hätte ich mehr geben müssen?“
Perfektionismus wird nicht zur Stärke, sondern zu einer Angststrategie::
- Angst, aufzufallen.
- Angst, zu stören.
- Angst, sichtbar zu werden.
- Angst, nicht genug zu sein.
Und genau diese stille, nach innen gerichtete Überforderung macht Mädchen so verletzlich.
Weil niemand merkt, wie sehr sie kämpfen, bis ihr Körper irgendwann „Stopp“ sagt.
Leise und unauffällig. Mit kleinen Signalen, die man leicht übersieht.
Wie man Mädchen mit stiller Überforderung unterstützen kann
Kinder, die so leise überfordert sind, brauchen nichts Lautes.
Sie brauchen niemanden, der strenger wird, schneller spricht oder sagt:
„Dann sag doch einfach, wenn dir etwas zu viel ist.“
Viele von ihnen können das gar nicht. Ihr Körper ist im Daueranspannungsmodus.
Studien zeigen, dass gerade stille, zurückhaltende Kinder mit ADHS einen großen Teil ihrer Überforderung in den Körper tragen.
Bauchweh, Kopfweh, Spannung im Brustkorb, Müdigkeit – das sind keine Kleinigkeiten.
Das ist ihr Nervensystem, das versucht, mitzuhalten.
Was sie brauchen:
Erwachsene, die zwischen den Zeilen lesen.
Die merken, wenn der Blick glasig wird.
Wenn ein Lächeln müde wirkt, statt fröhlich.
Wenn es „alles okay“ sagt, obwohl die Schultern etwas ganz anderes erzählen.
Die nachfragen, ohne zu drängeln:
„Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie viel ist dir gerade zu viel?“
oder einfach sagen:
„Du musst mir nichts erklären. Ich sehe, dass es gerade viel ist.“
Räume, in denen sie nicht funktionieren müssen.
Momente, in denen sie atmen dürfen, ohne etwas leisten zu müssen.
Ohne „Benimm dich“, ohne „Reiß dich zusammen“, ohne „Wir machen das jetzt noch schnell“.
Sätze wie:
„Du musst gerade gar nichts.
Wir machen erst mal eine kleine Pause.“
„Es ist okay, wenn du müde bist.“
Menschen, die Scham nicht noch größer machen
Kinder mit stiller Überforderung entwickeln schnell Scham, wenn sie glauben, nicht zu genügen.
Nicht laut genug, nicht mutig genug, nicht schnell genug zu sein.
Scham für Dinge, die andere längst vergessen haben.
Darum brauchen sie Menschen, die ihre Fehler weich auffangen.
Die sagen:
„Fehler machen dich nicht falsch.“
„Du darfst müde sein.“
„Es ist okay, wenn du nicht alles schaffst.“
Fünf Mutpausen für still überforderte Kinder
Es braucht oft nicht viel, um ein leises Nervensystem aufzufangen.
Keine bunten Programme, keine festen Abläufe, keine „Mach jetzt mal schnell!“-Übungen.
Diese fünf Mutpausen sind klein, unspektakulär – und genau deshalb so wirkungsvoll.
1. Die warme-Hand-Mutpause
Manchmal beginnt Ruhe in den Händen.
Bitte dein Kind, seine Hände unter warmes Wasser zu halten – langsam, ohne Eile, so lange, bis die Wärme spürbar in den Körper sinkt.
Warmwasser wirkt wie ein leiser Anker:
Es sagt dem Körper, dass er nicht mehr kämpfen muss.
Dass er für einen Moment einfach nur fühlen darf, statt funktionieren zu müssen.
2. Kuscheltier-Atmung
Legt ein weiches Kuscheltier oder ein kleines Kissen auf den Bauch.
Beim Einatmen hebt es sich, beim Ausatmen sinkt es.
Es ist nicht die Atmung allein, die beruhigt.
Es ist das Gefühl, dass etwas Weiches mitatmet -etwas, das nichts fordert, nichts bewertet, einfach nur da ist.
Diese Pause ist besonders für Kinder wertvoll, die sich im Alltag „tapfer“ halten und kaum Raum für sich selbst haben.
3. Der Einhüll-Moment
Eine Umarmung – aber nicht die, die man schnelle zwischen Tür und Angel.
Sondern die Art von Umarmung, bei der die Schultern erst stocken,
und sich dann, ganz langsam, senken.
Tiefe Druckreize beruhigen das Nervensystem.
Sie sagen: „Du musst das nicht allein tragen.“
Manche Kinder mögen keine Umarmungen.
Dann reicht ein schweres Kissen auf dem Schoß.
Oder sich gegen etwas Weiches lehnen.
Alles, was Halt gibt, ohne etwas zu verlangen.
4. Die Weichheits-Suche
„Such etwas im Zimmer, das sich wirklich weich anfühlt —
so weich, dass du es ein paar Sekunden lang halten möchtest.“
Kinder mit stiller Überforderung sind oft viel im Kopf –
im Grübeln, in Erwartungen, im inneren Druck.
Weiche Materialien holen sie zurück in ihren Körper.
Sie beruhigen, weil sie an nichts erinnern, außer daran, wie sich gut anfühlt.
5. Die Boden-Pause
„Setz dich auf den Boden.
Spür, wie er dich trägt.“
Mehr ist nicht nötig.
Der Boden nimmt Spannung weg, die in den Schultern hängt.
Viele dieser Kinder sind den ganzen Tag damit beschäftigt, nicht aufzufallen.
Der Boden ist der einzige Ort, an dem sie nichts leisten müssen.
Ein kleiner Brief an die Mädchen, die immer brav sind
Ich weiß, wie sehr du dich anstrengst.
Wie du versuchst, alles richtig zu machen.
Wie du lächelst, auch wenn es schwer ist.
Wie du still wirst, wenn es zu viel wird.
Wie du dich still zurückziehst, wenn deine Welt zu laut wird.
Wie du innerlich kämpfst und niemand es merkt.
Aber ich höre dich.
Und du bist nicht falsch, weil du leise bist.
Du bist nicht schwierig, weil du wenig sagst.
Du bist nicht „zu sensibel“ oder „zu verträumt“.
Du bist ein Kind, das jeden Tag mutig ist,
weil du innen kämpfst, ohne dass du außen schreist.
Du musst nicht perfekt sein, um geliebt zu werden.
Du darfst Fehler machen.
Du darfst traurig sein.
Du darfst lautlos weinen.
Du darfst Pause machen.
Du darfst Raum einnehmen.
Und du darfst einfach sein, wie du bist.
Wenn du deinem Kind etwas Gutes tun möchtest:
Ich habe Bücher kreiert, die genau dafür da sind:
für Kinder, deren Köpfe schnell voll werden,
die sich zurückziehen wollen, die langsamer sind, leiser, empfindsamer.
Bücher, die keine Aufgaben stellen,
nichts von ihnen verlangen, sondern Räume öffnen.
Räume für Pause.
Für „Ich darf“. Für „Ich bin genug“.
Für leise Tage und volle Köpfe.

